Pressemitteilung zum Erzählcafé
Die alten Neubürger
Das Erzählcafé der BI Rumpenheim widmete sich dieses Mal dem Thema „Die alten Neubürger“. Es ging um Flüchtlingsschicksale, um Vertriebene und Spätaussiedler, um Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und die es irgendwie nach Rumpenheim oder Bürgel verschlagen hat. Auf Einladung von Kurt Kaiser und Henning Hehner waren Joachim Sbierski, Eduard Kositza und Jochen Kühne gekommen, um von ihren Kindheitserinnerungen zu berichten, wie und warum sie auf welchen Wegen nach dem Krieg mit ihren Eltern nach Rumpenheim gekommen waren und wie sie von den alteingesessenen Rumpenheimern aufgenommen wurden.
Das Domizil der BI war wieder mal bis auf den letzten Platz besetzt, die letzten Gäste mussten sich Stühle aus dem Büro holen. Dafür wurden sie von Sigrid Otto und Bruno Persichilli mit Kaffee und Kuchen begrüßt. Der Kuchen stammte wie immer vom Bäcker Hoffmann. Einen weiteren Kuchen hatte Hannelore Sommer gespendet. Auch ein Päckchen Kaffee brachte eine Besucherin als Spende mit.
Sigrid Otto, die mit ihren Eltern ausgebombt war und im Vogelsberg die ersten Nachkriegsjahre erlebte, erinnerte sich, wie Flüchtlinge aus dem Banat kamen und die Frauen Kopftücher trugen und Wasserkrüge zur Verwunderung aller auf dem Kopf balancierend transportierten.
Eduard Kositza berichtete: „Meine Heimat war Schlesien, rund 50 km von Dresden entfernt lebten wir in Kunzendorf. Die Polen haben uns am Kriegsende vertrieben. Wir mussten in Viehwaggons steigen, das ganze Dorf – rund tausend Leute – musste weggehen. In Leipzig kam ich mit meinen Eltern unter. Ein Jahr lebten wir dort, ich ging zur Schule und es war eine Zeit des Hungers. Von dort ging es nach Offenbach, ein Bekannter aus unserem Dorf, war bereits dort und meinte, hier ist alles kaputt, hier gibt es viel Arbeit, hier werdet ihr gebraucht. Wir wohnten dann vier Wochen im Stadthofbunker, dann wurden wir zwangseingewiesen in die Bürgeler Straße. Wir hatten zu viert zwei Dachkammern. Wir wollten uns dann Stroh für das Bettzeug besorgen, aber der erste Bauer, den wir fragten, verscheuchte uns mit der Mistgabel. Auf Rat meiner Lehrerin wussten wir dann, wo wir Heu bekommen. So konnten wir nach einigen Tagen wieder halbwegs gut schlafen.
Auch bei der Wohnungssuche gab es unangenehme Erlebnisse: Der Vermieter einer Wohnung in der Kettelerstraße meinte zu uns, hier werdet ihr nicht glücklich, bei uns habt ihr kein gutes Leben. Es war klar, der wollte uns einfach nicht haben. Dann haben wir eine Wohnung im Seitenflügel des Rumpenheimer Schlosses bezogen, die Miete wurde von einem Mitarbeiter der kurhessischen Hausstiftung kassiert. Die Aufnahme in der Schule war problemlos. Für die Eltern fungierte ich als Dolmetscher. Einmal hörten sie, wie eine Frau klagte: „Uns ist die Gaaß verreckt!“ Meine Eltern sprachen recht gut hochdeutsch und verstanden den Rumpenheimer Dialekt nicht. Ich konnte ihnen sagen, die Geiß, also die Ziege der Frau war gestorben. Nach sechs Jahren im Schloss sind wir in die Dornbergerstraße gezogen. Mein Vater war Maurer und konnte hier ein Haus bauen. Meine Mutter arbeitete als Briefträgerin. Noch heute wohne ich mit meiner Frau hier und bin seit 69 Jahren Rumpenheimer“.
Joachim Sbierski, Jahrgang 1947, kam zehn Jahre nach dem Krieg 1955 am 01. August nach Rumpenheim. Er konnte sich bei seinem Bericht auf die schriftlich niedergelegten Lebenserinnerungen seines Vaters stützen: „Im Februar 1945 klopfte man frühmorgens an unsere Fenster und teilte uns mit, in drei Stunden müsst ihr weg, die Russen kommen. Die Bettwäsche und die wichtigsten Sachen waren schon gepackt, mit dem Bus kamen meine Mutter und meine Schwester mit mir in die nächste Stadt, von dort ging es mit dem Zug in einem offenen Güterwagen nach Dresden. Auf den Rat von den Leuten in Dresden fuhren wir mit dem Zug weiter Richtung Westen. Das war dann auch der letzte Zug, der kurz vor der verheerenden Bombardierung Dresdens die Stadt noch verlassen konnte. Für uns war es eine schlimme Erfahrung, die Heimat verlassen zu müssen. Unsere Familie war seit dem 13. Jahrhundert in Schlesien ansässig, niemals haben wir auch nur einen Gedanken daran verschwendet, einmal unsere Heimat verlassen zu müssen. Heute geht es den Flüchtlingen, die zu uns kommen, vielleicht ähnlich wie auch den Menschen, die ihre Heimat wegen Naturkatastrophen oder wegen eines Atomunfalls wie in Tschernobyl oder Fukushima ihre angestammte Heimat verlassen müssen. Wir kamen dann nach Hünfeld, dann nach Mansbach in der Rhön. Auch wir wurden in eine Wohnung zwangseingewiesen. Durch Mundpropaganda angeregt zogen wir nach Offenbach, zuerst nach Bieber, es hieß, das sei weniger zerstört. Wir bekamen eine Wohnung in der Langener Straße. Mein Vater, aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, fand als Bäcker eine Arbeit, aber er musste als billige Arbeitskraft auch zusätzlich noch als Maurer arbeiten. Hilfsbereite Nachbarn stellten uns einen Tisch und Stühle zur Verfügung, das war die erste Einrichtung. In der Schule war es nicht einfach, es gab einen Lehrer, der konnte Flüchtlinge nicht leiden. „Es heißt bei uns Jäächer und nicht Jäger!“ meinte er. Auch mein Vater hatte es nicht einfach. Er wollte sich als Bäcker selbstständig machen, aber die Bieberer Bäcker wussten dies zu verhindern. Dann kamen wir nach Rumpenheim, weil wir hörten, dass es dort eine Nebenerwerbssiedlung geben sollte. Die Siedlung „Biebernsee“ war auf Sand gebaut, bis in sieben Meter Tiefe gab es dort reinen Sand. Zu unserer Verwunderung gab es in dem neuen Haus einen Schweinestall und einen Heuboden. Man wollte, dass die Neubürger sich zumindest im Nebenerwerb selbst versorgen könnten. Eine Firma hatte die Häuser alle im gleichen Stil im Auftrag der Stadt gebaut. Für 28.000 DM konnte man sie erwerben. Es waren Zweifamilienhäuser mit EG und OG. Die Siedler haben dann das Land erschlossen. Ich kann mich erinnern, wie wir immer wieder Moorboden und Fuhren von Mist geholt haben. Die Leute hielten sich Hasen, Hühner und Enten. Man baute Kartoffeln und Gemüse an und konnte sich tatsächlich zum Teil selbst versorgen. Es gab keinen Kanal, keine Straßenlaternen, nachts war es auf dem Weg von Rumpenheim nach Biebernsee stockfinster. Es gab keine befestigte Straße. Ich kann mich noch erinnern, dass Autos oft im Sand feststeckten und mit Hilfe von Bohlen, die man unterlegte, sie wieder flott machte. Ein Mann tat sich damals hervor, er konnte mit reiner Muskelkraft ein Auto anheben. Sonntags kamen die alteingesessenen Rumpenheimer und schauten neugierig vorbei. Sie meinten: Die hatten doch früher nicht alle ein Haus, jetzt bekommen sie alles umsonst, und wo bleiben wir? Solche Sprüche hört man ja heute auch wieder. Damals trugen die Frauen in unserer Siedlung alle Kopftücher und Kittel, so war es kein Wunder, dass wir die Kopftuchsiedlung hießen. Für die katholische Gemeinde waren wir allerdings eine Bereicherung, denn Rumpenheim war bis dahin fast rein evangelisch. Der Kirchbesuch wurde übrigens streng kontrolliert. Man wurde auf einer Liste abgehakt und zur Rede gestellt, wenn man nicht zur Messe erschienen war“.
Hans-Jürgen Burmeister erinnert sich: „Integration fand auf dem Sportplatz statt. Wir spielten auf dem Gelände, auf dem sich heute das Anni-Emmerling-Haus befindet. Sonntags kamen die Rumpenheimer Mädchen und bandelten mit uns an. Auch heute integrieren wir mit den Angeboten der SKG Rumpenheim die Jugend. In der Schule war es aber nicht immer einfach. Für die alteingesessenen Rumpenheimer waren wir die katholischen „Mucker“.
Spannend war auch der Beitrag einer Dame, die mit ihrer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne Papiere zunächst als Staatenlose über Österreich nach Deutschland kam. Die Familie musste lange hartnäckig um die Anerkennung als Deutsche kämpfen.
Jochen Kühne aus Bürgel erinnerte sich genau an die Zeit der Flucht. „Wir wollten vor den Russen von unserem Gut aus der Uckermark fliehen. Am 28.04.1945 begaben wir uns mit Planwagen und 14 Pferden auf einen langen Weg über Schwerin, nach Lübeck, Hamburg, Detmold bis Kronberg. Unterwegs mussten immer wieder Pausen zur Erholung der Pferde und Reparatur der Wagen eingelegt werden. Durch Vermittlung von Verwandten kamen wir in den Seitenflügel des Schlosses nach Rumpenheim. Den damaligen Mietvertrag habe ich noch. Wir vergaben einige Pferde als Deputat. So bekamen wir Milch, Kartoffeln und an Weihnachten eine Gans. Unser Mittagessen bekamen wir damals im Feuerwehrhaus. Holz und Kohle mussten wir im Winter aus dem Marstall in unsere Wohnung transportieren, selbst Wasser musste geholt werden.“ Hans-Jürgen Burmeister erinnert sich noch an die Ankunft dieser Familie: „Für uns war es, als würde eine Zirkuskarawane nach Rumpenheim kommen. Schnell hieß es, das sind alles Zigeuner!“
Es kamen noch etliche Besucherinnen, auch Spätaussiedler, zu Wort. Einhellig war ihre Gefühlslage: Es ist das Schlimmste, was einem passieren kann, die Heimat zu verlieren. Aber Rumpenheim ist heute unser Zuhause!“
Bruno Persichilli
Vorsitzender der BIR